Archive für den Monat: September, 2013

Da ist eine auf der Flucht vor einem, der die Flucht nach vorn angetreten hat.

Da sind der eine oder die andere aktenkundig geworden, als Zuträger einer Behörde, und obgleich sie sich ihrer Maskierungen alsbald entledigt, lassen die Akten sie lediglich als Maskierte erfahren – Deckel drauf … „Die Parias sind und bleiben wir, die ehemaligen Inoffiziellen Mitarbeiter, auch wenn wir es vor dreißig Jahren waren, ausgestiegen sind und dann selbst verfolgt wurden.“ (S. 76) Schon stecken wir drin in dieser Geschichte, die im geteilten Berlin der 80er und der Bundeshauptstadt der 90er Jahre ihren Ort hat.

„Das Leben kann man nur rückwärts verstehen, und vorwärts muß man es leben“ (S. 13), so die beobachtende Erzählerin, und dies könnte ein Motto bilden, für diese Geschichte; ein anderes, das bezeichnend für den Umgang mit der sogenannten „gelebten Geschichte“ dies: „Wie es dazu kam, daß er diese Haltung eingenommen hat, interessiert nicht“ (S. 124) …

Oder, so die für Totgehaltene und Verschwundene, nach dem Mauerfall involviert in die Aufarbeitung Ost: „Wir sollten die Erbsen liefern, die wieder Andere zählten, um eine Person der Zeitgeschichte ans Messer zu liefern“ (S. 125) – So geht das …

Und damit sind wir beim Hauptstrang dieser Geschichte, die längst noch nicht Geschichte geworden, noch nicht abgelegt ist: Der Frage nach dem Wert, der Gültigkeit des Gelebten, der Erfahrungen und Erkenntnisse, gewonnen in einem nun nicht mehr existenten Land, dessen Prämissen und Substanz von der neuen Zeit verworfen wurden. Und die Zeitgenossen hängen daran, an diesem Strang, in der wieder und wieder erfahrenen Zurückweisung und im Bemühen, die Deutungshoheit über die eigene Geschichte zurückzugewinnen.

Fiktive Personen aus drei Generationen finden in diesem Roman Brigitte Struzyks zur Sprache. Deren Lebensgeschichten werden schlaglichtartig erhellt resp. die Momente, da sie in eine Beziehung zueinander treten oder sich auch nur Berührungspunkte ergeben. Erzählt wird aus deren unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen heraus, was der Geschichte mehr Dimension verleiht, ohne daß ein „Panorama“ entfaltet, eine „Familiensaga“ bemüht werden muß. Jene, denen eine Stimme verliehen wird, bleiben bei sich, wirken authentisch auch in den Motiven, die ihrem Agieren zugrunde liegen. Und es sind ja zuvörderst die Motivationen, denen der analytische wie empfindsame Blick der Autorin gilt … Das trifft auf die Vertreterinnen und Vertreter der „Aufbau-Generation“ ebenso zu wie auf deren Kinder, hineingeboren, und schließlich die Generation der Enkel, die das Jahr 1989 noch als Teenager erlebt haben.

Daß die Nachgeborenen mit dem umgehen müssen, in schmerzhafter Weise oft, was eigentlich zum Leben der Eltern, Vorfahren gehört, wird in Brigitte Struzyks Roman sinnhaft erfahrbar und findet darin seine Entsprechung …

Die Rahmenhandlung für den Roman bilden der Aufbau eines Kampfgruppendenkmals am Eingang zum Volkspark „Prenzlauer Berg“ Anfang der 80er Jahre, gegen den Widerstand einer Bürgerinitiative durchgesetzt, und dessen Entfernung in einer Nacht- und Nebelaktion Ende der 90er. Dazwischen liegen sechzehn Jahre, in denen sich die Lebenslinien der Protagonistinnen und Protagonisten im Gang der Geschichte zum Teil verquicken, überlagern oder auch wieder entwirren.

Diese Empathie im Erzählen, die dennoch nichts beschönigt, sondern genau hinblickt und auch ohne Klischees auskommt, wenn vom DDR-Alltag die Rede ist, all den willkürlichen oder strukturellen Hürden und Hindernissen – das Ganze wirkt in der lockeren und auf Dialog orientierten, dabei sehr poetischen Sprache wie ein großer Gesang von Liebe, Mitmenschlichkeit, vom Scheitern und vom Verrat, nur daß letzterer hier nicht allein in der Vergangenheit, sondern auch der Jetzt-Zeit der Geschichte zu finden, in Gestalt der Distanzierung von einer Person, die als beschädigt gilt, im Namen einer Partei, einer Sache, etwas, das doch so oft in der DDR erfahrbar gewesen. Doch hier: zehn Jahre nach der Wende – man wendet sich ab von dem, der von den „Akten“ belastet, wendet sich ab aus politischem Gutdünken, würde ja sonst die Karriere kosten, die politische …

„War es auch eine Mode, Hühnergötter zu sammeln […] so war das Sammeln von Hühnergöttern in einer atheistischen Atmosphäre etwas freimütig Abtrünniges in die Richtung des Unsagbaren, Unerklärlichen, das ja im offiziellen Alltag, der am besten mit einer MLWA ausgestattet war, nicht existierte.“ (S. 57)

[Brigitte Struzyk: Drachen über der Leninallee. Fixpoetry Verlag, 2012]

[Dieser Beitrag ist als Rezension in SIGNUM, 15. Jg., Heft 2 veröffentlicht]

Dichten sei wie Radium gewinnen, lehrte man mich, als ich, halbwüchsig, mit Gedichten in die Welt zu treten trachtete. Radium gewinnen wollte ich jedoch nicht, aus diesem amorphen Wortgetüm, das gab es ja schon. Und was heißt hier halbwüchsig, zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits zwei Drittel der jetzigen Körpergröße erreicht. Doch entmutigen ließ ich mich nicht und wandte mich an den Doktor der Poetensprechstunde von der Jungen Welt, pflegte über Monate eine ambulante Beziehung, die aber folgenlos bleiben sollte …

träumte, auf den mitternachtsexpress zu warten, der vom hohen norden bis nach aden führt, doch ich will nur eine kurze strecke mit; die bahnhofshalle wirkt glanzlos wie zu ddr-zeiten, d.h. weitgehend ohne reklame, und so düster, als hätte man ein schwarzweiß-photo davon vor augen – der zug soll 14:47 uhr abgehen, ein zug, der von einiger beliebtheit, weshalb die leute in der regel schon zeitig auf dem bahnsteig, um auch mitzukommen, nur das personal zeigt sich wenig begeistert ob des trubels, weil man allenthalben auf die silberne währung der kronenverschlüsse stößt … Sicher bin ich mir diesmal allerdings nicht, ob der zug wirklich in der fünfzehnten oder nicht doch erst sechzehnten stunde abfährt, denn auf dem bahnsteig tut sich augenblicklich nichts, allgemein scheint in der vorhalle indes eine gewisse irritation – manche von denen, die ich auf dem bahnsteig schon öfters gesehen und also dem mitternachtsexpress zuzuordnen sind, gehen noch einen kaffee trinken oder verschwinden im zeitungsladen, ich entscheide mich fürs bistro, das zur halle hin offen; die frau hinter der theke serviert mir einen kaffee, den eine kundin unberührt hat stehen lassen, gießt das milchgeschäumte getränk einfach in einen neuen pott und sagt: alles perfekt; der mitternachtsexpress läßt auf sich warten …

Die nacht holt sich alles zurück, alsdann, all das, was wir als ewig erachtet – nächtens wach zu liegen, mit solchen gedanken, ohne plan, ohne orientierung dem treibgut von worten ausgesetzt, richtungslos …

Wir bedürfen immer einer richtung, einer richtungsangabe, zumindest einer vorstellung davon, der gerichtetheit, zurichtung – nein, letzterer eher nicht, doch ist der begriff wohl nicht von ungefähr mit dem des richtens verknüpft, einer tätigkeit, die ihren pervertierten ausdruck in der hinrichtung, der richtstätte findet, in einem finalen geschehen, das es so überflüssig wie sinnlos macht, noch von richtung zu sprechen.

Da vollendet sich was, wobei vollendung hier eine metapher mit bitterem beigeschmack – der nacht bitterem nachgeschmack, und zugleich von einer milde, die bewirkt, daß man morgens nicht mutlos erwacht [sondern mit zuversicht war ich versucht zu schreiben, doch das schien mir eine zu starke wendung, obgleich sie ab und an zutreffen mag, auch auf das eigene leben. Ein versehen verbirgt sich in der zuversicht, ein sich versehen, doppelbödig, das zusehen – sieh zu, daß du leine ziehst, auch so was – dem begriff eignet etwas trügerisches, weshalb er zuvörderst in der terminologie des politischen verortet] …