Archive für den Monat: Juli, 2013

als ich in der morgendämmerung per rad die runde drehte, kreuzte zweimal eine schwarze katze meinen weg, und ich dachte, es wäre gut, rücksichtsvoll zu fahren, obgleich hier eher vorsicht geboten, vorausschauendes verhalten – rücksicht zu nehmen bedeutet doch auch, so zu handeln, daß man es späterhin nicht bereut, sich nicht schämen muß, zurückschauend, und an dieser stelle mischte sich der rückspiegel ein, der blick in diesen, ein gedanke, der zwangsläufig in dieser autoaffinen ära – doch in der zeit, da der begriff der rücksicht entstanden, gab es wohl noch keine rückspiegel, vermittels derer man wie durch ein zeitfenster auf die stelle zu schauen vermag, die man gerade eben passiert, und zugleich die zukunft im rücken hat: kommt da was, mich ein- und zu überholen, kommt da was auf mich zu, das mich zu reagieren zwingt, ganz im banne der gleichzeitigkeit …

das kleine provence-tagebuch von 2002 hervorgeholt, um mich des namens jenes ortes zu versichern, der den schlußpunkt unserer reise bilden sollte (fontés), dabei natürlich auch die anderen eintragungen gelesen und wieder einmal begriffen, wie oft schreiben der versuch, etwas zu rekonstruieren und nicht etwa abzubilden; und in diesem prozeß von versicherung und vergewisserung erfinden sich bestenfalls die orte, situationen, begebnisse neu, mit ihnen die damit verbundenen emotionen – wir beschreiben einen gegenstand oder ort, aber letztlich ist es das papier, das zum schriftfalter wird …

am st. marien der geruch nach lysol, die patienten drehen mit ihren angehörigen eine letzte runde, bevor sie wieder der haft überantwortet werden, dem reglement jedweder anstalt: vorgezogenes abendessen, zeitige nachtruhe, denn jetzt ist es schon nach fünf, und ich verspüre, dies vor augen, wieder jenes ziehen im bauch, das sich unweigerlich einstellte, wenn die eltern mit mir den rückweg zum krankenhaus einschlugen, im sommer ’68, oder wir noch im café saßen und der blick zur uhr ging: gleich fünf, also zahlen, und das schattenreich wuchs, auch wenn wir die besonnte straßenseite für den rückweg wählten – nein, nicht daß der zeitgenosse des beistands der eltern so sehr bedurft hätte, in jenem jahr, da er seine strafmündigkeit erringen sollte, er vor allem eigenen interessen folgte, interessen, die er zumeist vor ihnen verbarg, die allein seine sache, und sowieso nur noch selten darüber sprach, was er an den langen nachmittagen so trieb – allein als verwahrtem dieser anstalt schienen ihm ihre sonntäglichen besuche doch wichtig, weil sie geeignet, ihn herauszulösen aus der zeit, für eine runde durch den park, eis oder kaffee, hauptsache hinaus –

Und eines sonntags im august sollte die mutter allein erscheinen, der vater, so hieß es, sei zum dienst abkommandiert, sie wisse nicht einmal wo, nur daß dies mit prag zusammenhänge … Und was hatte der zeitgenosse bislang über prag vernommen, gelegentlich aufgeschnappt, über den äther, mit ihm eingedräut bekommen? Dubczek, reformen, konterrevolution, chaotische zustände … – die hiesigen gazetten wußten im frühsommer zu berichten, in prager restaurants würde ein gericht namens „gebratener kossygin“ feilgeboten, und das ginge natürlich nicht, den amtierenden sowjetischen außenminister … doch den noch gläubigen zeitgenossen (unsere sache) hatte es eher amüsiert, derlei korrespondentenschmackes serviert zu bekommen, in der anstalt, die für ihre klienten die junge welt abonniert, erschienen ihm doch die genossen, die führenden, nicht nur jene der su, allzu dröge, vor allem deren stundenlangen referate, die noch jedesmal den sendeplan der rundfunkanstalten zu kippen in der lage. Schon im frühjahr also so manch spitzer kommentar in der presse zu den vorgängen in prag, und in der erinnerung ist mir, als wäre angelegentlich auch das wort dekadenz gefallen resp. westliche dekadenz, in bezug auf das treiben gewisser erhitzter gemüter in prag, die mit libertären losungen aufwarteten. Das gefährdete den plan …

Der zeitgenosse, der oft und mit vorliebe am radioapparat hing, am tropf, vermittels dessen die wirklichkeit …, der ab und an kurbelte und den stimmen aus dem äther lauschte, in anderer weise im rausch, rias, sfb und sonst noch was, musik, literatur, geschichte … drehte wohl ’68 häufiger am rad, schon wegen paris, und gelegentlich ließ er sich ein streifiges weltbild übermitteln, vom westdeutschen ersten, wo er sich beispielsweise an bundestagsdebatten delektierte, weil da was ablief, was an theater erinnern mochte … – hatte der zeitgenosse also auch anderes über prag vernommen als das eingemachte? Allzuviel konnte davon nicht hängen geblieben sein …

nun melancholie, abends, da die schatten schon wieder länger werden und ich mich zwangsläufig der sommerabende erinnere, wo das alles noch von bedeutung, ich mich ihnen spielerisch näherte – von diesem gefühl, dieser stimmung ist noch etwas gegenwärtig, nicht alles in die innersten lagen verdrängt. Es läßt sich ja nur das erinnern, d.h. veräußern, was man ins innerste hineingelassen und dort verwahrt, wiewohl da was mit den gütern, die man sozusagen ins herz geschlossen, geschieht und man zugleich an einem status quo festhalten möchte: so ist es gewesen … Was dann ab und an immense auseinandersetzungen um den wirklichkeitsanspruch dieser erinnerungsgüter zeitigt. Manche erinnerungen, die bilder zumal, erscheinen häufig als exponate einer dauerausstellung, von der man alle stücke schon kennt … In jürgen beckers journal fand ich heute dazu folgenden satz:

Es geht darum, daß die Erinnerung sich in Unbekanntes aufmacht; daß sie über die Grenzen ihrer Reichweite hinauskommt; daß sie vergißt, was sie alles schon kennt.
[Auszug in SINN UND FORM, Viertes Heft, 2013]

auf der runde durch die heide ab und an die frage, welche stelle es sein könnte, an der ich das leben verlieren werde, d.h. den schlüssel dazu, und zu der ich also zurückkehren müßte, es wiederzufinden, weshalb ich verschiedenen punkten an der strecke, die ich regelmäßig passiere, namen gegeben: furt, kleiner sumpf, zweibrückenland, schlagbaum

white stuff, die betonzeile am horizont, von sonnenlicht erhellt, und die vögel haben die lufthoheit im garten, eine meise landet wiederholt auf dem tisch, an dem ich sitze, guckt mich an, läuft ein paar zeilen; amseln üben das sich fallen lassen, aufs gemüsebeet, übern zaun der nachbarparzelle hinweg, als gäbe es da was zu holen … Der tisch steht unterm kirschbaum, ab und an fällt eine der unreifen früchte herab, und vor der weißen zeile am horizont flugzeuge, im minutentakt …

heute einen hasen gesehen, einen echten, auf dem weg, rückte auch gleich ab ins feld; abrücken, einrücken, zusammenrücken – das erinnert mich an was: nachkriegssprech, verwaltungs-, beamten- und erzieherdeutsch: einrücken in den saal, in die schlafstube, das traditionskabinett – jede kaserne hatte das, devotionalien hinter glas …

Einen verlorenen faden wieder aufnehmen – vielleicht war es das, was mich gestern zu wolfgang bächlers gedichtband „nachtleben“ greifen ließ, den ich im frühjahr 89 von meinem lektor beim s.fischer verlag bekommen hatte; ich las der fluß und ich trage erde in mir, beides gedichte, die ich, neben etlichen anderen, damals mit einem sternchen markiert: das erstere setzt sich auf einer metaebene mit dem überfluß an gesagtem auseinander, letzthin mit der vergeblichkeit, ohne in einen resignativen ton zu verfallen; eher mit spöttischem seitenblick auf die gesellschaft, sich selbst und das eigene werk spricht das dichterische ich, mit ironie und gelassenheit. Das zweite gedicht hingegen könnte als poetologisches statement des autors gelten, es endet mit den zeilen:

Ich habe nie etwas besessen.
Doch alles ist in mich eingedrungen.

Den verlorenen faden wieder aufnehmen – erst anfang der 80er jahre kam ich mit texten bächlers in berührung, vernahm ich seinen namen. In margarethe von trottas film schwestern oder die balance des glücks (1979), den ich mir 1981 wiederholt ansah und in dem auch konstantin wecker einen kurzen auftritt hat, als jungstar, der den brotberuf an den nagel hängt und fortan als liedermacher sein leben bestreiten will, spielt bächler in einer nebenrolle sich selbst als autor, der in dieser aufrührerischen wie von den ereignissen des sogen. deutschen herbstes gezeichneten zeit traumprotokolle in die maschine diktiert. Texte, die mich in ihrer verknappten sprache beeindruckten, die von häusern, räumen, krieg und ängsten handelten, in einer dringlichkeit, der ich mich nicht zu entziehen vermochte. Etwa ein halbes jahr zuvor hatte ich selbst träume  aufzuzeichnen begonnen und dabei auch an eine literarische bearbeitung gedacht, und möglicherweise ermutigten mich bächlers texte, darin fortzufahren …

Die gedichte und traumtexte wolfgang bächlers konnte ich jedoch erst viel später lesen, zu ddr-zeiten waren lediglich in einer der anthologien zur westdeutschen lyrik hierzulande arbeiten von ihm zu finden, in „die nicht erloschenen wörter“, erschienen bei volk und welt 1985. Bächler, der als stiller, zurückhaltender autor galt, vermochte insbesondere in seinen gedichten und seiner trauminspirierten prosa auch mit galligem humor aufzuwarten – eine zeile in „nachtleben“ lautet:

Die Pistole, die ich mir an die Schläfe hielt, war mit Scheiße geladen. Ich schoß mir die Welt durch den Kopf.

Durch bächlers traumprotokolle, die er seit den frühen 50er jahren nacht für nacht aufzuzeichnen begann, und die gedichte zieht sich ein verstörender ton, von dem auch jene in der filmepisode zitierten stücke geprägt sind. Die intensität, in der ich dies wahr- und aufnahm, mochte nicht zuletzt dem kontext der in dieser zeit gerade wieder zunehmenden politischen spannungen zwischen den blöcken, neuen rüstungsrunden in ost und west geschuldet sein …

Ich dringe in ein leeres Haus ein, in einem Dorf, das vom Feind umstellt ist. Ich gehe vorsichtig immer in Deckung, um nicht gesehen zu werden, befürchte Schüsse auf mich, nicht nur von drinnen, auch durch die Fenster von draußen. Ich finde ein Zimmer, dessen Wände frisch gestrichen sind.
Als einziges Möbel steht ein Tisch in der Mitte des Zimmers. Auf ihm liegt ein schöner roter Apfel. Ich nehme ihn und verlasse das Haus und bin dann weiter auf der Flucht, ohne zu wissen, wohin.
[Bächler: Traumprotokolle]

Werke Wolfgang Bächlers (Auswahl):
Traumprotokolle. S. Fischer, 1978
Nachtleben. Gedichte. S. Fischer, 1982
Im Schlaf. Traumprosa. S. Fischer, 1988
Einer, der auszog, sich köpfen zu lassen. Roman. S. Fischer, 1990
Gesammelte Gedichte. S. Fischer, 2012

der wald scheint auch einer dieser traumorte – sobald ich aus ihm hinausgelangt, war das meiste von dem, was er mir geschenkt, schon wieder verloren …

Träumte, eine lesung volker brauns besucht zu haben, in einem leipziger vorort, der buchhandlung von w.; als ich ankam, hatte braun seinen vortrag schon beendet, stand man in gruppen im saal, manche auch an der kasse im verkaufsraum, wo brauns neueste veröffentlichung, ein sonderdruck mit gedichten, angeboten wurde, dessen langen titel ich bestechend fand – w. kam auf mich zu, wir umarmten uns, wechselten ein paar worte, dann trieb es mich zur kasse, eines der letzten exemplare zu erstehen

W. wirkte irgendwie ernüchtert oder gar enttäuscht von dem, was braun vorgetragen, und das schien keine frage der qualität. Eher mochte der unmut sich auf die ungebrochen fortgeführte dialektische betrachtungsweise des autors beziehen, mit der er gesellschaftlichen entwicklungen wie ereignissen in der zeitgeschichte gleichermaßen auf den grund zu gehen trachtet, den brüchen, und das seit jahrzehnten. Wobei w. wohl der ansicht, daß dies doch auf die dauer deprimieren müsse …

In gewissem sinne ist braun strukturalist und beobachtet als solcher die entwicklungen, schaut darauf, wie gesellschaft, schichten oder gruppen sich konstituieren, welche dynamiken dabei entstehen, was das mit dem bewußtsein der handelnden oder getriebenen anstellt … Da zieht sich konsequent eine linie durch die gedichte und vor allem auch prosastücke, von den 60er jahren bis heute, etwa von „das ungebundene leben kasts“, über „die vier werkzeugmacher“ nach der wende bis hin zu „machwerk“ und „die hellen haufen“, letzteres eine reminiszenz an den widerstand der bischofferodaer kumpel gegen die schließung ihres rentablen salzbergwerkes und eine gesellschaftliche utopie zugleich. Braun scheint einer der wenigen autoren, die sich in dieser weise mit gesellschaftlichen vorgängen beschäftigen und daraus erhellende literarische texte gewinnen.

Einsichten in volker brauns wahrnehmungs-/denk- und arbeitsweise gewährt vor allem das 2009 bei suhrkamp erschienene „werktage. arbeitsbuch 1977 – 1989“.